Samstag, 2. März 2019

8. Ausschreibung als Chance

Was ist dran an diesen Ausschreibungen? Die Idee selbst ist ja verlockend: Man bewirbt sich um Aufträge, die definitiv vorhanden sind und von Rechtswegen ausgeschrieben werden müssen.  Vorbei an allen Netzwerken, Seilschaften und Gewohnheiten. Alleine dem „wirtschaftlichsten Angebot“ verpflichtet.
Mein früherer Arbeitgeber hat dadurch immer wieder Kunden gewonnen. Meist für zwei bis vier Jahre, bis die Aufgabe wieder neue ausgeschrieben werden musste. Jetzt ist es so weit. Ich werde diesen Weg auch für uns bei Boncreativa ausprobieren.

Zunächst einmal prüfe ich, welche Portale Ausschreibungen zu Leistungen der Marketingkommunikation anbieten. Erstaunlich, wie viele das sind! Ich lese mich ein und siehe da, die ausgeschriebenen Aufträge reichen von der Strategie zur Entwicklung einer Dachmarke über das SEO-Projekt bis hin zur Funkspotkampagne für eine öffentlich-rechtliche Sendeanstalt.
Obwohl ich durch meinen ehemaligen Arbeitgeber ja schon erste Berührungspunkte mit dem Verfahren hatte und an der Schulung des Agenturscout teilgenommen habe, kommt mir das Procedere ziemlich fremd vor. Im Laufe der kommenden Stunden wird mir auch klar, warum mein ehemaliger Arbeitgeber für diese Tätigkeit einen eigenen Mitarbeiter beschäftigte. Der war zwar nicht Vollzeit tätig, aber er kannte sich natürlich bis ins Detail aus. Und um Details geht es hierbei wirklich.

Bezogen auf meinen jetzigen Arbeitgeber fällt diese Aufgabe eindeutig in mein Ressort. Obendrein ist es meine Idee, diesen Weg auszuprobieren. Ich definiere diese Woche als Woche, in der ich mich in die Tiefen der Materie einarbeite. Wie gut, dass ich sowohl die Zeit, als auch die Möglichkeiten dazu habe.

Die folgenden Tage sind gekennzeichnet durch ein intensives Studium unzähliger Internetseiten, der Betrachtung zahlreicher YouTube-Videos, der Teilnahme an Webinaren und dem Wälzen von  Fachliteratur. Spaß fühlt sich anders an! Seit der Endphase meines Studiums hat mir der Kopf nicht mehr so sehr geraucht. Erfolgten nicht ständig die freundlichen Getränkelieferungen der einen oder anderen Kollegin 😊, bestünde die reale Gefahr, an dieser Thematik zu dehydrieren. Beruhigend ist allerdings zu erkennen, dass es sich hier um einen formalen Prozess handelt, der – wenn er einmal angelegt ist - mit wenig Aufwand und vielen Textbausteinen immer wieder zu reproduzieren ist. Und das ist dann auch der entscheidende Unterschied zu anderen Formen der Bewerbung. Werde ich als Agentur zu einem Pitch aufgefordert, muss ich dort mit individuellen Ideen antreten, an denen eine ganze Mannschaft lange Zeit gearbeitet hat. Im Falle der Ausschreibung reicht es, dass eine Person - in diesem Falle: ich - die notwendigen Unterlagen zusammenstellt und in einer - speziell aufbereiteten - Form fristgerecht an den Auftraggeber oder die von ihm beauftragte Stelle sendet.   

Die Möglichkeit, „so leicht“ an qualifizierte Auftragspotenziale zu kommen, lässt auch einige meiner Kollegen nicht mehr in Ruhe. Ich befinde mich gerade in einem Webinar, in welchem es um das Erstellen der Teilnahmeunterlagen geht, als Annika den Raum betritt. Ob ich denn von dem Widerspruch gehört hätte, der das gesamte Ausschreibungsverfahren des XY-Amtes um fast ein Jahr verzögert hat? Nein, habe ich nicht! Aber es ist doch ein Beweis dafür, dass es hier nach Recht und Gesetz zugeht und jeder Bieter sogar eine Rechtsgrundlage für die Anfechtung der Vergabeentscheidung hat. Die sollte es auch mal für Pitchentscheidungen in der freien Wirtschaft geben!  

Auf der Grundlage meines frisch erworbenen Wissens treffe ich die Entscheidung, mich nur auf solche Ausschreibungen zu bewerben, die das sogenannte „Verhandlungsverfahren“ gewählt haben. Hierbei ist nämlich entscheidend, dass sich die Bieter erst einmal vorqualifizieren müssen. Man muss hier nicht befürchten, gleich mit dem Stundensatz eines Anbieters aus Warschau verglichen zu werden. Ungeachtet dessen sind im Folgenden jede Menge Formulare auszufüllen. Dabei ist höchste Perfektion geboten. Wie ich noch aus dem Seminar mit Manfred Berger bei meinem ehemaligen Arbeitgeber weiß, scheidet bereits hier ein hoher Prozentsatz der Bieter aus.  Und das nur, weil sie an den formalen Anforderungen des Teilnahmeantrags scheitern. Den ersten Filter bei der Bewertung von Teilnahmeanträgen bildet nämlich ein Sachbearbeiter der Vergabeabteilungen oder eine mit der Durchführung des Vergabever-fahrens beauftragte Anwaltskanzlei. Und die kennen kein Pardon bzw. halten sich strikt an die Richt-linien: Fehlt bspw. eine einzige Unterschrift, wird die Bewerbung ausgesondert und nimmt an dem weiteren Verfahren nicht mehr teil.

Nun sind Bankauskünfte und Versicherungsbestätigungen zu besorgen und in Kopie anzufügen. Mir wird schnell klar, warum sich so wenige Kreative mit dieser Form der Auftragsbeschaffung beschäftigen. Gut so, denn wo hat man als New Business Manager sonst die Möglichkeit, quasi im Alleingang den Unter-schied zu bewirken!
Dann wird es sogar noch ein wenig kreativ. Nun geht es darum, die fachliche Eignung der Agentur für das konkrete Ausschreibungsverfahren darzulegen. Verlangt wird dabei nicht die Erarbeitung eines konkreten Vorschlags, sondern die Aufbereitung von Arbeitsproben und Referenzprojekten, die die Arbeitsweise und Leistungsfähigkeit der Agentur erkennen lassen. Hier lohnt es sich, den in der Leistungsanforderung genauer beschriebenen Bedarf intensiv zu studieren und daraufhin die bestgeeigneten Cases etc. aus-zuwählen.

Nachdem ich mir die Leistungsanforderungen ungefähr ein halbes Dutzend Mal durchgelesen habe, verstehe ich nun auch den damaligen Hinweis von Berger, dass man - mit ein wenig Übung - anhand der Leistungsanforderungen schon den Wert eines späteren Kunden erkennen kann. Also Augen auf bei der Auswahl der Ausschreibungen, an welchen man sich beteiligt.

Nach rund vier Tagen ist mein erster vollständig selbsterstellter Teilnahmeantrag meiner ersten Aus-schreibung fertig. Viel Arbeit, aber vermutlich eine gute Investition, denn das wird nicht der Letzte gewesen sein. Und ich schätze, dass - mit zunehmender Übung - weitere Bewerbungen an Ausschreibun-gen nur noch einen einzigen Tag in Anspruch nehmen werden. Das erscheint mir sehr rationell. Denn wenn sich diese Bewerbung in dem gewählten „Verhandlungsverfahren“ aufgrund ihrer formalen Stimmigkeit und aussagefähiger Leistungsdarstellungen in der ersten Phase behauptet, gelangen wir direkt in eine Art Pitch-Verfahren. Und das alles mit einem klaren Zeitplan und in einer Transparenz, wie man sie sich nur wünschen kann.

Als ich das Päckchen für den Versand schnüre, fühle ich mich, als würde ich gerade auf eine Autobahn auffahren. Mal sehen, wie weit ich komme!

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen